„Erst das Erzählen gibt dem Märchen seine Seele. Gedruckt liegen Märchen nur in einem Grab, durch das Lesen holen wir sie in unsere Vorstellung herauf, durch das Erzählen werden sie lebendig.“
(Rudolf Geiger, Märchenerzähler und Märchenforscher, 1908 – 1999)
Dieses Zitat spricht mir aus der Seele. Ja, es ist schön, Märchen zu lesen – aber wirklich lebendig werden sie nur durchs Erzählen, durch Sprache, Gestik und Mimik des Erzählenden. Und gerne leihe ich den Märchen meine Stimme, damit sie lebendig werden können.
Märchen entführen in ein Land voller Magie und Fantasie
Wenn wir Märchen hören oder lesen, reisen wir in ein Land der nahezu unbegrenzten Möglichkeiten. Da gibt es das Wasser des Lebens, wir können einen Schluck aus dem Jungbrunnen nehmen, Tiere können sprechen, Menschen verwandeln sich in Tiere um ihre Aufgaben zu erledigen und vieles mehr. Es gibt magische Gegenstände aller Arten und immer wieder werden Mensch und Tier in Stein verwandelt. Mit ein bisschen Glück kommt einer, der sie wieder erlöst.
Hast Du schon einmal die vielen, von der Natur geschaffenen Steinfiguren gesehen? Oder sind es gar Überbleibsel aus einer Welt, in der jemand im wahrsten Sinne des Wortes versteinerte? Aus einer Zeit, in der das Wünschen noch geholfen hat – und das verwünschen ebenso? Oder ist das alles nur Zufall? Ich weiß es nicht, aber mir gefällt die Vorstellung, es könnte so gewesen sein. Ja, ich darf mir deswegen hin und wieder anhören, ich hätte zu viel Fantasie. Macht aber nichts, ich liebe es, wenn ich sie auf meinen Wanderungen entdecke: Steine, die aussehen wie Figuren oder Bäume in denen ich Gesichter erkenne.

Im Märchen sind Wahrheit und Weisheit kunstvoll verpackt
Es gibt ein wunderschönes Märchen mit dem Titel „Das Märchen und die Wahrheit“. Dieses Kunstmärchen geht auf Jakob Kranz, einen jüdischen Prediger des 18. Jahrhunderts zurück, wie ich vor einiger Zeit gelesen habe. In dieser Geschichte trifft die unglückliche Wahrheit auf das Märchen und dieses bietet ihr schließlich an, in seine bunten Kleider zu schlüpfen – und deshalb finden wir heute noch die Wahrheit in den Märchen verpackt.
Die Märchen zeigen uns auf eine kunstvolle Weise, wie Leben gelingt und wie es zwangsläufig scheitern muss. Sie enthalten sozusagen Perlen einer universellen Weisheit, auf der jede und jeder sein persönliches Glück gründen kann. Dabei darf man aber nicht aus den Augen lassen, dass Märchen, die aufgeschrieben wurden, dem Zeitgeist angepasst und teils stark verändert wurden.

Märchen schaffen Verbindung
Ist Dir schon einmal aufgefallen, dass es viele Märchenmotive in ganz unterschiedlichen Ländern gibt? Diese Geschichten haben zwar einerseits länderspezifische Details, andererseits aber eine sehr, sehr ähnliche Botschaft. Daher sind Märchen ideal um Verbindung zu schaffen – zwischen Menschen, Ländern, Nationen. Hier kann man sehr deutlich erleben, dass die Gemeinsamkeiten weit größer sind als die Unterschiede und dass es uns im Grunde doch allen um das gleiche geht: Wir alle wollen ein gutes Leben führen, in Frieden und Freiheit.
Wenn man ein gemeinsames Thema hat, ist es einfacher ins Gespräch zu kommen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass man unter Märchenbegeisterten schnell ins Gespräch kommt. Dabei ist es völlig gleichgültig, ob es sich dabei um eine Erzählerin, einen Erzähler, eine Zuhörerin oder einen Zuhörer handelt. Ebenso wenig spielt es eine Rolle, ob man sich das erste Mal begegnet oder ob man sich quasi schon ewig kennt. Was mich dabei immer wieder positiv überrascht, ist, wie tief solche Gespräche oft gehen und wie schnell gegenseitiges Vertrauen geschaffen wird.

Mit dem Märchenerzählen pflege ich eine lebendige Tradition
Früher, als es noch kein elektrisches Licht gab und Wärme so teuer war, dass oft nur ein einziger Raum beheizt war, rückten die Menschen enger zusammen. Dabei wurden Handarbeiten erledigt und erzählt. Die Geschichten wurden mündlich weitergegeben, wanderten also vom Ohr in den Mund und unterhielten und erfreuten die Menschen. Wenn ich also erzähle, reihe ich mich in die lange Tradition des Erzählens ein und sorge auf meine ganz persönliche Art und Weise dafür, dass diese lebendige Tradition weiterbesteht.
Übrigens: Die UNESCO sieht das Märchenerzählen als Kulturerbe an und hat es im Dezember 2016 in das bundesweite Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes aufgenommen.
Beim Märchenerzählen bin ich in meinem Element
Ich liebe es einfach zu erzählen. Es bringt mir Freude und lässt mein Herz strahlen. Wenn ich vor Publikum erzähle und die Augen sich berühren, wenn ich sehe und erlebe, wie die Menschen mit mir durch die Märchen gehen, dann ist das, jedes Mal wieder neu, wunderschön für mich und ein permanenter Ansporn alles zu geben. Wenn ich zum Erzählen in mein Mittelalterkleid schlüpfe, geht eine Verwandlung in mir vor: Ich schlüpfe vollständig in die Rolle der Erzählerin und bin, für mich tatsächlich so wahrnehmbar, eine andere. Ich gehe vollständig darin auf und das liebe ich sehr.
