Am Rande eines kleinen Dorfes lebte einmal eine mürrische Alte. Ihr Mann war schon lange gestorben. Freunde besaß sie keine, denn sie ließ an nichts und niemanden ein gutes Haar und beschwerte sich ständig über dies und das. Da sie selbst nichts Gutes an ihrem Leben sah, gönnte sie auch niemanden anderen etwas Gutes. So lebte sie allein und abgeschieden in ihrem kleinen Häuschen und haderte mit sich und der Welt.
Hinter dem Haus begann der dunkle Wald und oft ging sie hinein, um Beeren, Kräuter, Wurzeln oder Pilze zu sammeln. Eines Tages nahm sie wieder einmal ihr Körbchen und machte sich auf den Weg. Der Pfad den sie einschlug schlängelte sich den Berg hinauf und führte sie schließlich zu einer Stelle, von der aus man einen wunderschönen Blick über ihr Dorf hatte.
Mürrisch sah sie hinab und verzog missbilligend ihr Gesicht. ‚Was trieben die denn da auf der großen Wiese vor dem Ort? Stellten die da etwa Tische und Bänke rund um die alte Linde auf? Was sollte das schon wieder werden?‘ Da fiel es ihr plötzlich ein: Morgen war der längste Tag des Jahres und das ganze Dorf feierte ein großes Fest. Es gab Speis‘ und Trank im Überfluss, Musikanten spielten auf und die Menschen, jung wie alt, tanzten um ein großes Feuer. Die jungen Frauen und die Mädchen trugen Kränze aus Blumen und Kräutern auf dem Kopf, die sie im Laufe des Morgens gemeinsam banden.
Was für eine Verschwendung! Die Kräuter könnte man wahrlich besser verwenden! Und wenn sie nur an all das Gehopse und die laute Musik und überhaupt den ganzen Lärm dachte, wurde ihr schlecht. Bestimmt konnte sie die ganze Nacht wieder kein Auge zu tun! Verboten gehörte das! Jawohl, verboten! Schließlich wandte sie sich ab und schlurfte zurück nach Hause, während sie ihren trüben Gedanken nachhing.
Nun hatte die Alte sich eigentlich vorgenommen an diesem Abend früh ins Bett zu gehen, doch der Gedanke an all den Krach des nächsten Tages raubten ihr die Ruhe. So kam es, dass der volle Mond schon hell am Himmel stand, als sie schließlich müde genug war. Sie erhob sie also von ihrem Lehnstuhl vor dem Kamin und trat an ihr Fenster. Dabei fiel ihr Blick auf den Vollmond und mürrisch sprach sie ihn an: „Früher sagte man, Du seist eine mächtige Göttin. Wie wäre es, wenn Du den Krach für immer unterbinden würdest, damit ich endlich in Frieden leben kann?“ Seufzend wandte sie sich ab und zog die Vorhänge zu, wohlwissend, dass es nichts nutzte, sich beim Mond zu beschweren. Sie legte sich ins Bett und war bald eingeschlafen.
Als sie erwachte stand der Mond noch immer hoch am Himmel und an ihrem Bett saß eine wunderschöne Fremde mit wallenden, weißen Gewändern, die über und über mit Perlen bestickt waren, die wie Perlmutt schimmerten. Ihre Haut war milchig weiß wie das Licht des Mondes und ihre Augen funkelten hell wie die Sterne. Sie lächelte die Alte an. „Komm“, sagte sie, erhob sich und winkte der Alten ihr zu folgen. Diese wusste nicht, wie ihr geschah. Sie musste mit, ob sie nun wollte oder nicht, denn ihre Beine schienen sich verselbständigt zu haben. So trat sie also mit mürrischer Mine aus dem Haus, wo die Fremde auf sie wartete. Mit einer Geste forderte die Frau auf, die Alte möge ihr folgen und wieder blieb ihr nichts anderes übrig, ob sie wollte oder nicht. Ihre Beine machten sich von selbst auf den Weg.
Zunächst führte die Fremde sie einmal durch das schlafende Dorf, dann über die nächtliche Festwiese, wo fleißige Hände das morgige Fest vorbereitet hatten. Anschließend ging es hinein in den dunklen Wald und auf verschlungenen Pfaden bis zu einer kleinen Lichtung.
Die ganze Zeit über blickte die Alte nicht links und nicht rechts, sondern starrte auf den Weg, während sie ihren mürrischen Gedanken nachhing. Zu gern hätte sie sich lautstark über diese Behandlung beschwert, aber wie durch Zauberhand war ihr Mund verschlossen.
Erst als sie auf der Lichtung standen hob sie den Blick und sah einen großen, weißen Findling inmitten einer nächtlichen Blumenwiese. Aus dem Stein floss eine milchig-weiße Flüssigkeit in ein Becken, das wie Perlmutt in allen Farben schillerte. Die Fremde saß auf dem Rand des Beckens und der Vollmond hüllte alles in sein silbernes Licht.
Wieder winkte die Frau die Alte näher und als diese direkt vor ihr stand, begann sie zu sprechen: „Ich habe deinen Ruf vernommen und bin gekommen, dir zu helfen. Siehe, du bist blind und taub geworden für die Schönheit und die Freude im Laufe deines Lebens und eine dicke, harte Schicht hat sich um dein Herz gelegt. Dies ist der Grund, warum du nur noch das siehst, was dir missfällt und nur noch das hörst, was du als Krach empfindest. Ich will deine Augen wieder sehend und deine Ohren wieder hörend machen und den Panzer deines Herzens will ich entfernen.“
Wie durch Zauberhand hielt die Fremde mit einem Male einen Becher in der Hand. Sie füllte den Becher mit Quellwasser und reichte ihn der Alten: „Hier, trink!“
Wie aus einem inneren Zwang heraus gehorchte die Alte. Das Wasser schmeckte frisch und kühl und doch war es ihr, als wäre es ihr Herz. Dann streckte die Fremde ihre Finger in das Becken und benetzte Augen und Ohren der Alten mit dem Wasser.
Verwundert blickte die Alte umher. Ihr war, als ob ein Schleier von ihren Augen genommen war, denn als sie sich umblickte, war alles verändert. Die Farben der Blumen und Pflanzen schienen intensiver zu sein. Tief sog sie den Duft des Waldes ein und ließ ihre Augen dabei umherstreifen.
„Nun komm, folge mir noch einmal“, sprach da die Fremde lächelnd, erhob sich und führte sie den gleichen Weg, den sie gekommen waren. Diesmal aber nahm die Alte alle Blumen und Sträucher, alle Büsche und Bäume wahr. Sie lauschte auf die Geräusche des nächtlichen Waldes, die ihr vorher entgangen waren. An der Festwiese angekommen, bemerkte sie, wie schön alles geschmückt war und dachte an die fleißigen Hände, die dies vollbracht hatten. Auch konnte sie in ihrem Inneren bereits die Musik hören, die keineswegs wie Krach klang, sondern lang vergessene Erinnerungen in ihr wachriefen. Sie sah sich selbst, als sie noch jung war, lachend und tanzend beim Fest, geschmückt mit einem herrlichen Blütenkranz. Ach, wie schön das damals war! Unterdessen kehrten sie zu ihrem Häuschen zurück.
Plötzlich sandte der Mond einen silbernen Strahl vom Himmel, der direkt vor der Fremden am Boden endete. Diese lächelte der Alten noch einmal zu, betrat den Lichtstrahl und wanderte auf ihm zurück zum Mond. Die Alte aber stand noch lange draußen in der Nacht und blickte hinauf in den Himmel, auch als der Strahl schon lange verloschen war.
Am anderen Morgen als die Alte erwachte, rieb sie sich die Augen. Was für ein seltsamer Traum das heute Nacht doch war! Ihr war, als hätte sie eine Wanderung mit der Mondgöttin unternommen. Sie musste lachen, was für ein Traum! Gleichzeitig fühlte sie sich so frei, so glücklich, wie seit Jahren nicht mehr. Ihr Häuschen, das ihr immer so klein und schäbig vorgekommen war, versprühte an diesem Morgen eine heimelige Wärme mit dem Lehnstuhl vor dem Kamin, den getrockneten Kräutern, die in Büscheln von der Decke hingen, mit den blitzblank gescheuerten Töpfen und Pfannen. Als sie schließlich vor die Türe trat, begrüßte sie die strahlende Sonne mit einem Lächeln, lauschte glücklich dem Gesang der Vögel und sog den Duft der Kräuter und Blumen ihres Gartens ein, den sie so lange ignoriert hatte. Während ihre Augen über all diese Pracht streiften, entdeckte sie etwas Schimmerndes das im Gras lag. Neugierig bückte sie sich und hob eine einzelne Perle auf. Eine Perle, die genau so aussah, wie jene an dem Kleid der Mondgöttin. In diesem Augenblick war ihr bewusst, dass sie nicht geträumt hatte, sondern all das wirklich erlebt.
Mit der Perle in der Hand wanderte ihr Blick weiter in Richtung der Festwiese am Rande des Dorfes und ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf: „Was, wenn sie heute Abend mit zum Tanzen ginge? Und was, wenn sie sich selbst einen Kranz aus Blumen und Kräuter flocht? Sicher, eigentlich trugen nur Mädchen und junge Frauen einen Blumenkranz, aber heute, ja heute, fühlte sie sich jung. Was die anderen wohl dazu sagen würden? Sie dachte an all die bösen Worte, all das Murren, mit denen sie den Dorfbewohner immer begegnet war. ‚Ob sie mich wohl in ihrer Mitte dulden?‘ dachte sie und ließ ihre Augen noch einmal über ihren Garten schweifen und machte sich dann fröhlich an ihr Tagwerk.
Als die ersten Takte der Musik erklangen zog die Alte ihr schönstes Kleid an und setzte sich den Blumenkranz auf den Kopf, den sie am Morgen gebunden hatte. Mit klopfenden Herzen machte sie sich auf den Weg zur Wiese. Unterwegs begegneten ihr die Dorfbewohner und so manch einer warf ihr einen verstohlenen Blick zu, ohne sie jedoch anzusprechen. Sie konnte sich denken, was die Leute dachten: „Was will die mürrische Alte hier? Will sie uns wieder den Spaß verderben?“
Als sie schließlich an der Festwiese ankam, verstummten die Gespräche. Alle sahen sie an und die Alte merkte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete. Sie räusperte sich, ließ ihre Augen über die Menge schweifen und sagte dann mit fester Stimme: Ich weiß, in den letzten Jahren war ich sehr unfreundlich zu euch. Mit mir war nicht gut auszukommen, denn ich gönnte euch kein Glück und keine Freude, weil ich nichts davon empfand. Blind und taub war ich und hart im Herzen. Heute aber fühle ich mich jung, wie neu geboren. Lasst mich erzählen, was ich diese Nacht erlebt habe.“ Getreulich berichtete die Alte was sich vergangene Nacht zugetragen hatte und schloss mit den Worten: „Ich möchte mich bei euch entschuldigen, weil ich immer so griesgrämig war und euch keine Freude gönnte. Ich bitte euch von ganzem Herzen: Verzeiht mir.“
Für einen Moment herrschte Stille, doch dann erhob sich der Dorfälteste, trat zu ihr und führte sie zu seinem Tisch. Später, als das Feuer brannte, tanzte sie ausgelassen mit den anderen und war so glücklich wie schon lange nicht mehr in ihrem Leben.
Ob die Dorfbewohner ihr die Geschichte mit der Mondgöttin geglaubt haben, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass die Alte von diesem Tage an nur noch freundlich zu jedermann und glücklich in ihrem Herzen war.
© Märchenerzählerin Heike Appold, Mainstockheim, Juni 2023