Wenn Tod und Teufel sich ein Stell-dich-ein geben

Ich liebe Blogparaden, allerdings habe ich die unangenehme Eigenschaft mir viele auszusuchen und am Ende wenige zu schaffen – zumindest in der Zeit, in der die Blogparade laufen. Ich bin ehrlich, für mich wäre es besser, sie wären über das Jahr verteilt, statt dass sie einmal in geballter Form auf schreibwillige Menschen wie mich treffen.

Auch in der Blogparadenzeit 2023 habe ich mir etliche ausgesucht – geschafft habe ich eine einzige. Einfach, weil mir die Idee so gefiel und das Thema meine Fantasie herauskitzelte. Von welcher ich rede? Von der Fantastic Business Story von Manuela Kramer.

Als Märchenerzählerin sollte es mir möglich sein, eine märchenhafte Story über meinen Alltag hinbekommen, oder? Na, ganz so einfach war es dann auch wieder nicht… doch schließlich, kurz vor Ende der Blogparaden-Zeit sprudelte die Geschichte doch noch aus mir heraus. Und tada, hier ist sie, meine Fantastic Business Story.

Wenn Tod und Teufel sich ein Stell-dich-ein geben

Das unzuverlässige Wetterorakel

Die ganze Woche über hatte es schon geregnet und auch an diesem Morgen war der Himmel wolkenverhangen und trübe. Von Zeit zu Zeit öffnete der Himmel seine Schleusen und mehr oder weniger große Wassermassen flossen auf die Erde. Ab und an aber riss die Wolkendecke auf und die Strahlen der Sonne brachen durch.

Immer wieder blickte die Märchenfee abwechselnd in den Himmel und in ihr magisches Buch. Ihr müsst nämlich wissen, sie besitzt ein besonderes Zauberbuch, das ihr, wenn sie die rechte Seite aufschlägt, ein Wetterorakel zeigt. An diesem Tag aber war das Orakel völlig unzuverlässig! So verkündete es einmal, dass gerade eben die Sonne schien, während ihr ein Blick in den Himmel verriet, dass es regnete.

Der Blick ins magische Buch half einfach nicht weiter.

Natürlich wusste die Märchenfee, wie sehr sich die Natur über den Regen freute und wie wichtig dieser für das Überleben von Mensch und Tier war, aber gerade heute brauchte sie ihn wirklich nicht! Zumindest in nicht am Abend, denn da hatte sie in den Märchengarten eingeladen. Nicht nur Menschen hatten ihr kommen angekündigt, sondern auch Tod und Teufel wollten sich just heute ein Stell-dich-ein in ihrem Garten geben. Es war wie verhext! Nun lud sie schon seit Juli in ihren Garten ein, um die Menschen in eine andere Welt zu entführen, und jedes Mal, ja wirklich jedes Mal, schien es, als ob der Wettergott ihr übel mitspielen wollte, nur um dann doch noch Gnade walten zu lassen. Wenn die Märchenfee hinaus aus ihrem Fenster blickte oder die Seite in ihrem Zauberbuch aufschlug, dann seufzte sie laut. Sie wusste einfach nicht, wie sie sich richtig verhalten sollte. Sollte sie allen absagen? Oder darauf hoffen, dass der Regen sich verzieht und die Sterne herauskamen?

Das Wetterorakel machte der Märchenfee den ganzen Tag über Sorgen. Nicht nur, dass es an diesem Tag völlig unzuverlässig war, nein, es prophezeite für den Abend ständig etwas anderes! Der Fee war klar, auf ihr Zauberbuch konnte sie sich an diesem Abend nicht im Geringsten verlassen.

Der Blick in den wolkenverhangenen Himmel

Immer wieder sah sie sorgenvoll in den Himmel. Am Nachmittag aber erschien am Himmel ein wunderschöner Regenbogen und die Märchenfee beschloss, dies als gutes Zeichen zu werten. Tief in ihrem Herzen wusste sie, auch dieses Mal würde alles gut gehen und das Wetter würde halten. Auch wenn ihr Herz in manchen Momenten verzagt war, so wusste sie doch, dass im Märchenland viele gute und hilfreiche Geister wohnten. Was lag da näher, als diese Mächte anzurufen und sie zu bitten, dem Regen eine kleine Pause aufzuerlegen, so lange, bis das Stell-dich-ein vorüber war und alle ihrer Wege gegangen.

Der Regenbogen erscheint – ein Lichtblick!

Kurz nach Anbruch der Dunkelheit machten sich die Märchenfee und ihr Gehilfe auf den Weg in den Garten. Noch immer nieselte es, doch sie beschlossen, sich davon nicht abhalten zu lassen. Schnell waren die Stühle für die Gäste aufgestellt. Während der Gehilfe die Fackeln aufsteckte, danach Lagerfeuer und Fackeln entzündete, sorgte die Märchenfee mit ihrem magischen Lappen dafür, dass die Stühle wieder trocken wurden. Schnell verteilte sie bequeme Kissen darauf und trat dann aus dem Märchengarten, um die Gäste in Empfang zu nehmen.

Die Reise ins Märchenland

Und dann geschah das Wunder: Der Regen hörte auf, just in dem Moment als die ersten Gäste kamen. Freudig suchten sie sich einen Platz und ließen sich gespannt nieder. Das Feuer brannte hell und der Wind blies glücklicherweise in eine Richtung, die niemanden völlig einräucherte.

Pünktlich zur vereinbarten Stunde erschienen Tod und Teufel und all die anderen, die ihr Kommen angekündigt hatten. Nun müsst ihr wissen, dass die Bewohner des Märchenreiches unsichtbar für die Augen der Menschen sind und die Gäste die Anwesenden mit ihren gewöhnlichen Augen nicht sehen können. Nur die Märchenfee weiß, dass unerkannt von den Menschen auch Gäste aus dem Märchenland im Garten weilten.

Die Märchenfee begrüßte die Anwesenden und entführte sie danach nur mit ihrer Stimme als Hilfsmittel direkt ins Märchenland. Während sie sprach erschienen die Bewohner des Märchenreiches vor den inneren Augen der Gäste. So wurden sie Zeuge, wie ein gewieftes Bäuerchen ein Teufelchen überlistete und wie ein Wollknäul ein Schaf davor rettete, allein beim Tod zurückbleiben zu müssen. Sie erfuhren warum ein wagemutiger Schmied weder für den Himmel, noch für die Hölle taugte und daher für alle Ewigkeit wandern muss. Sie erlebten mit, wie ein kleiner Junge seinen Vater mit einem Stück Knäckebrot vorm Tod rettete und wie ein abgedankter Soldat den Teufel überlistete und damit eine arme Seele vor dem Höllenfeuer rettete.

Die Reise ins Märchenland

Natürlich macht so ein Erleben hungrig und durstig. Wie gut, dass die Märchenfee an alles gedacht hatte und heißen Tee und Lebkuchen mitbrachte. An diesen konnten sich alle in einer kleinen Pause stärken. Während alle mit ihren Bechern noch am Feuer standen, leuchtete dieses plötzlich in allen Farben des Regenbogens auf. Wie konnte das sein? Unbemerkt hatte der Helfer ein magisches Pulver ins Feuer gestreut und sorgte so für dieses zauberhafte Licht.

Viel zu bald war die Reise ins Märchenland zu Ende. Eine ganze Weile noch blieben alle sitzen, ehe sich die Gäste auf den Heimweg machten, nicht ohne anzukündigen, dass sie das nächste Mal wieder mitreisen wollen.

Es regnet, es regnet

Kaum war der letzte Gast gegangen, begann es erneut zu regnen. Die feinen Tropfen fielen auf das Gesicht der Märchenerzählerin. Glücklich richtete sie ihren Blick nach oben und dankte all den Guten Mächten, die ihre Bitte erfüllt hatten und dem Regen für eine Weile Einhalt geboten hatten. Dann aber löschte sie mit ihrem Helfer alle Feuer, sammelte Becher, Kannen, verbliebene Lebkuchen und Stuhlkissen ein.

Als sie das Tor hinter sich schloss, blickte sie abermals lächelnd in den Himmel und sagte leise: „Ich freue mich auf das nächste Mal! Dann aber hoffentlich ohne Zitterpartie ums Wetter.“

Darf man (Volks-)Märchen verändern – und wenn ja, gibt es eine Grenze?

Jeder Märchenerzähler der frei erzählt und nicht rezitiert, verändert die Vorlage ein wenig. Er verwendet eine andere Sprache, schmückt das ein oder andere aus, erwähnt anderes womöglich nur so am Rande. Das gehört zum freien Erzählen dazu, finde ich. Meine eigene Sprache finden, die Geschichte so nacherzählen, wie es für mich stimmig ist. Zeitgleich stellt sich die Frage: Wie weit darf diese Anpassung gehen? Darf ich nach eigenem Belieben verändern, was mir nicht gefällt? Oder gehört einfach alles zur Geschichte, so wie es überliefert ist? Auch wenn mir manches nicht schmeckt? Wenn es mir zu brutal erscheint oder nach erhobenem Zeigefinger klingt, den ich nicht unterstütze? Aber wenn ich allzu viel verändere, ist dann die Geschichte noch immer das Ursprungsmärchen oder habe ich ein Kunstmärchen geschaffen?

Mündliche Tradition

Lange bevor Märchen aufgeschrieben wurden hat man sie erzählt. Man gab sie mündlich weiter und wir alle wissen, was passiert, wenn ich eine Geschichte erzähle, jener der sie erlauscht weitergibt und wir das dreimal hintereinander wiederholen: Jeder merkt sich das, was für ihn wichtig ist und die Geschichte verändert sich mit jeder Weitergabe. Gibt es also überhaupt das Märchen xy oder gibt es nur das Märchen xy überliefert von…?

Wenn jemand, so wie ich, eine große Märchenbibliothek besitzt und ein Märchen in mehreren Büchern auftaucht, so kann er unschwer feststellen, dass die Versionen nicht identisch sind. Noch spannender wird es, wenn man das ein oder andere Märchen in der Sprache besitzt, die in jenem Land gesprochen wird, aus dem es stammt. In diesem Fall hat man oft zusätzlich zu den unterschiedlichen Überlieferungen auch noch diverse Übersetzungsunterschiede. Es macht Spaß die verschiedenen Versionen nebeneinander zu legen und sich die Unterschiede, aber auch die Gemeinsamkeiten anzusehen. Dabei kann man feststellen, dass, obwohl das ein oder andere verändert wurde, der Kern der Geschichte der gleiche bleibt.

Wenn ich als Erzählerin ein Märchen vorbereite das ich in unterschiedlichen Versionen besitze, so lege diese gern nebeneinander, sehe mir an, was wo überliefert wurde und übernehme bei den Unterschieden das, was für mich stimmig ist. Außerdem verwandle ich oft indirekte Rede in direkte, weil das für mich die Geschichte lebendiger macht. Lebendiges Erzählen gehört für mich unabdingbar zum freien Erzählen, das in der Tradition des mündlichen Erzählens steht.

Märchen wurden schon immer angepasst

Ob es uns bewusst ist oder nicht, Märchen wurden schon immer bearbeitet. Bestimmt könnte man viele, viele Beispiele dafür finden, ich selbst möchte mich hier aber mit zwei begnügen:

Die Brüder Grimm haben sehr bewusst die Geschichten, die man ihnen erzählte, so verändert, dass sie in die Zeit passten. So ist ihr Verdienst nicht nur die Erschaffung der wohlklingenden Märchensprache, sondern auch die inhaltliche Bearbeitung und Aufbereitung der Vorlagen nach ihrem eigenen Empfinden und ihren eigenen Motiven.

Vor einigen Wochen bin ich bei einer Märchenrecherche im Internet über den deutschen Geistlichen und Schriftsteller Johann Heinrich Lehnert gestolpert. Der Mann, der von 1782 bis 1848 lebte, brachte u.a. einige eigene Märchensammlungen heraus. In seinem Buch „Mährchenkranz für Kinder“ nahm er auch bekannte Märchen der Brüder Grimm und Charles Perrault auf, milderte dabei jedoch manche in seinen Augen wohl zu grausame Szene ab. Im Gegenzug dazu schmückte er andere Teile der Geschichten besonders aus.

Veränderte Märchen – Veränderte Botschaft

Märchen transportieren Weisheiten und Botschaften. Jede Veränderung – abgesehen von der rein sprachlichen Veränderung – ändert damit auch die Botschaft, die das Märchen in sich trägt. Ich erinnere mich noch gut an eine Märcheninterpretation während meiner Ausbildung, die sich einer freien Märchenerzählung anschloss. Den Titel des Märchens weiß ich nicht mehr, doch ich erinnere mich gut an den Märchenhelden, der ein junger Mann war. Während unserer Gespräche drehte sich viel darum, dass er, obwohl noch jung, all das bewerkstelligen konnte und so weise war. Wir stürzten uns regelrecht auf dieses „jung“. Als ich später das Märchen nachlas, musste ich feststellen, dass der Mann im Text mit keinem Wort als jung oder Jüngling oder ähnlichem bezeichnet wurde. Es hieß schlicht „der Mann“. Was war geschehen? In der Vorstellung der Erzählerin war der Mann schlicht jung und als freie Erzählerin, die nach Bildern erzählt, hat sie genau wiedergegeben, was ihrer Vorstellung entspricht – und uns damit, völlig unbewusst, eine andere Botschaft vermittelt als jene, die das Märchen im Originaltext besaß.
Nun war das eine unbeabsichtigte Veränderung, doch man kann Märchen auch bewusst verändern, und damit eine andere Botschaft in die Welt tragen. Es macht einen Unterschied ob ich eine Frau als Märchenheldin wähle, obwohl im Text selbst von einem Mann die Rede ist. Es ist wichtig, ob am Baum eine Pflaume oder ein Apfel hängt oder ob der Gegenspieler eine böse Hexe oder doch ein Zauberer ist. Jede Figur, jedes Ding das nicht nur Beiwerk ist, hat eine Botschaft für uns, ebenso wie die Attribute, die ich diesen zuschreibe. Verändere ich hier etwas, verändere ich deutlich die Weisheit des Märchens.

Darf ich ein Märchen also so tiefgreifend bearbeiten?

Die Frage lässt sich nicht einfach beantworten. Eine Patentlösung habe ich nicht und jede Erzählerin und jeder Erzähler muss selbst in sich hinein spüren, was wichtig und richtig für die Person selbst ist.

Manchmal ist die Überlieferung, die man in Händen hält einfach nicht stimmig. Manchmal spürt man: Da fehlt was! Manchmal will ein Detail einfach nicht ins Märchen passen. Soll man es dann einfach trotzdem so erzählen, wie es dasteht, obwohl man die Ungereimtheiten spürt? Für mich persönlich fühlt sich das nicht gut an. Soll man es einfach überhaupt nicht erzählen und dem Problem damit ausweichen? Das kann man natürlich, doch für mich ist das auch nicht stimmig, zumindest wenn mir der Rest gut gefällt oder gerade so gut zu einem Thema passt, das ich gerade erarbeite. Darf man es dann nach eigenem Gutdünken abändern? Aus meiner Sicht: Ja, aber… es ist dann schlicht nicht mehr das Ursprungsmärchen und das sollte auch erkennbar sein. Es ist dann eben nicht mehr das Märchen XY, sondern eine Geschichte nach den Motiven des Märchens XY. So fühlt es sich zumindest für mich stimmig an. Dazu gehört für mich auch, dass ich das klar kommuniziere, zumindest, wenn ich Name und Herkunft des Märchens bei einem Auftritt nenne. Ganz sicher aber muss ich darauf hinweisen, wenn ich das Erzählte interpredieren möchte.

Wie siehst Du das? Schreibe es mir gern in den Kommentaren.

Deine Märchenerzählerin

Heike Appold

Die mürrische Alte und die Mondgöttin

Am Rande eines kleinen Dorfes lebte einmal eine mürrische Alte. Ihr Mann war schon lange gestorben. Freunde besaß sie keine, denn sie ließ an nichts und niemanden ein gutes Haar und beschwerte sich ständig über dies und das. Da sie selbst nichts Gutes an ihrem Leben sah, gönnte sie auch niemanden anderen etwas Gutes. So lebte sie allein und abgeschieden in ihrem kleinen Häuschen und haderte mit sich und der Welt.

Hinter dem Haus begann der dunkle Wald und oft ging sie hinein, um Beeren, Kräuter, Wurzeln oder Pilze zu sammeln. Eines Tages nahm sie wieder einmal ihr Körbchen und machte sich auf den Weg. Der Pfad den sie einschlug schlängelte sich den Berg hinauf und führte sie schließlich zu einer Stelle, von der aus man einen wunderschönen Blick über ihr Dorf hatte.

Mürrisch sah sie hinab und verzog missbilligend ihr Gesicht. ‚Was trieben die denn da auf der großen Wiese vor dem Ort? Stellten die da etwa Tische und Bänke rund um die alte Linde auf? Was sollte das schon wieder werden?‘ Da fiel es ihr plötzlich ein: Morgen war der längste Tag des Jahres und das ganze Dorf feierte ein großes Fest. Es gab Speis‘ und Trank im Überfluss, Musikanten spielten auf und die Menschen, jung wie alt, tanzten um ein großes Feuer. Die jungen Frauen und die Mädchen trugen Kränze aus Blumen und Kräutern auf dem Kopf, die sie im Laufe des Morgens gemeinsam banden.

Was für eine Verschwendung! Die Kräuter könnte man wahrlich besser verwenden! Und wenn sie nur an all das Gehopse und die laute Musik und überhaupt den ganzen Lärm dachte, wurde ihr schlecht. Bestimmt konnte sie die ganze Nacht wieder kein Auge zu tun! Verboten gehörte das! Jawohl, verboten! Schließlich wandte sie sich ab und schlurfte zurück nach Hause, während sie ihren trüben Gedanken nachhing.

Nun hatte die Alte sich eigentlich vorgenommen an diesem Abend früh ins Bett zu gehen, doch der Gedanke an all den Krach des nächsten Tages raubten ihr die Ruhe. So kam es, dass der volle Mond schon hell am Himmel stand, als sie schließlich müde genug war. Sie erhob sie also von ihrem Lehnstuhl vor dem Kamin und trat an ihr Fenster. Dabei fiel ihr Blick auf den Vollmond und mürrisch sprach sie ihn an: „Früher sagte man, Du seist eine mächtige Göttin. Wie wäre es, wenn Du den Krach für immer unterbinden würdest, damit ich endlich in Frieden leben kann?“ Seufzend wandte sie sich ab und zog die Vorhänge zu, wohlwissend, dass es nichts nutzte, sich beim Mond zu beschweren. Sie legte sich ins Bett und war bald eingeschlafen.

Als sie erwachte stand der Mond noch immer hoch am Himmel und an ihrem Bett saß eine wunderschöne Fremde mit wallenden, weißen Gewändern, die über und über mit Perlen bestickt waren, die wie Perlmutt schimmerten. Ihre Haut war milchig weiß wie das Licht des Mondes und ihre Augen funkelten hell wie die Sterne. Sie lächelte die Alte an. „Komm“, sagte sie, erhob sich und winkte der Alten ihr zu folgen. Diese wusste nicht, wie ihr geschah. Sie musste mit, ob sie nun wollte oder nicht, denn ihre Beine schienen sich verselbständigt zu haben. So trat sie also mit mürrischer Mine aus dem Haus, wo die Fremde auf sie wartete. Mit einer Geste forderte die Frau auf, die Alte möge ihr folgen und wieder blieb ihr nichts anderes übrig, ob sie wollte oder nicht. Ihre Beine machten sich von selbst auf den Weg.

Zunächst führte die Fremde sie einmal durch das schlafende Dorf, dann über die nächtliche Festwiese, wo fleißige Hände das morgige Fest vorbereitet hatten. Anschließend ging es hinein in den dunklen Wald und auf verschlungenen Pfaden bis zu einer kleinen Lichtung.

Die ganze Zeit über blickte die Alte nicht links und nicht rechts, sondern starrte auf den Weg, während sie ihren mürrischen Gedanken nachhing. Zu gern hätte sie sich lautstark über diese Behandlung beschwert, aber wie durch Zauberhand war ihr Mund verschlossen.

Erst als sie auf der Lichtung standen hob sie den Blick und sah einen großen, weißen Findling inmitten einer nächtlichen Blumenwiese. Aus dem Stein floss eine milchig-weiße Flüssigkeit in ein Becken, das wie Perlmutt in allen Farben schillerte. Die Fremde saß auf dem Rand des Beckens und der Vollmond hüllte alles in sein silbernes Licht.

Wieder winkte die Frau die Alte näher und als diese direkt vor ihr stand, begann sie zu sprechen: „Ich habe deinen Ruf vernommen und bin gekommen, dir zu helfen. Siehe, du bist blind und taub geworden für die Schönheit und die Freude im Laufe deines Lebens und eine dicke, harte Schicht hat sich um dein Herz gelegt. Dies ist der Grund, warum du nur noch das siehst, was dir missfällt und nur noch das hörst, was du als Krach empfindest. Ich will deine Augen wieder sehend und deine Ohren wieder hörend machen und den Panzer deines Herzens will ich entfernen.“

Wie durch Zauberhand hielt die Fremde mit einem Male einen Becher in der Hand. Sie füllte den Becher mit Quellwasser und reichte ihn der Alten: „Hier, trink!“

Wie aus einem inneren Zwang heraus gehorchte die Alte. Das Wasser schmeckte frisch und kühl und doch war es ihr, als wäre es ihr Herz. Dann streckte die Fremde ihre Finger in das Becken und benetzte Augen und Ohren der Alten mit dem Wasser.

Verwundert blickte die Alte umher. Ihr war, als ob ein Schleier von ihren Augen genommen war, denn als sie sich umblickte, war alles verändert. Die Farben der Blumen und Pflanzen schienen intensiver zu sein. Tief sog sie den Duft des Waldes ein und ließ ihre Augen dabei umherstreifen.

„Nun komm, folge mir noch einmal“, sprach da die Fremde lächelnd, erhob sich und führte sie den gleichen Weg, den sie gekommen waren. Diesmal aber nahm die Alte alle Blumen und Sträucher, alle Büsche und Bäume wahr. Sie lauschte auf die Geräusche des nächtlichen Waldes, die ihr vorher entgangen waren. An der Festwiese angekommen, bemerkte sie, wie schön alles geschmückt war und dachte an die fleißigen Hände, die dies vollbracht hatten. Auch konnte sie in ihrem Inneren bereits die Musik hören, die keineswegs wie Krach klang, sondern lang vergessene Erinnerungen in ihr wachriefen. Sie sah sich selbst, als sie noch jung war, lachend und tanzend beim Fest, geschmückt mit einem herrlichen Blütenkranz. Ach, wie schön das damals war! Unterdessen kehrten sie zu ihrem Häuschen zurück.

Plötzlich sandte der Mond einen silbernen Strahl vom Himmel, der direkt vor der Fremden am Boden endete. Diese lächelte der Alten noch einmal zu, betrat den Lichtstrahl und wanderte auf ihm zurück zum Mond. Die Alte aber stand noch lange draußen in der Nacht und blickte hinauf in den Himmel, auch als der Strahl schon lange verloschen war.

Am anderen Morgen als die Alte erwachte, rieb sie sich die Augen. Was für ein seltsamer Traum das heute Nacht doch war! Ihr war, als hätte sie eine Wanderung mit der Mondgöttin unternommen. Sie musste lachen, was für ein Traum! Gleichzeitig fühlte sie sich so frei, so glücklich, wie seit Jahren nicht mehr. Ihr Häuschen, das ihr immer so klein und schäbig vorgekommen war, versprühte an diesem Morgen eine heimelige Wärme mit dem Lehnstuhl vor dem Kamin, den getrockneten Kräutern, die in Büscheln von der Decke hingen, mit den blitzblank gescheuerten Töpfen und Pfannen. Als sie schließlich vor die Türe trat, begrüßte sie die strahlende Sonne mit einem Lächeln, lauschte glücklich dem Gesang der Vögel und sog den Duft der Kräuter und Blumen ihres Gartens ein, den sie so lange ignoriert hatte. Während ihre Augen über all diese Pracht streiften, entdeckte sie etwas Schimmerndes das im Gras lag. Neugierig bückte sie sich und hob eine einzelne Perle auf. Eine Perle, die genau so aussah, wie jene an dem Kleid der Mondgöttin. In diesem Augenblick war ihr bewusst, dass sie nicht geträumt hatte, sondern all das wirklich erlebt.

Mit der Perle in der Hand wanderte ihr Blick weiter in Richtung der Festwiese am Rande des Dorfes und ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf: „Was, wenn sie heute Abend mit zum Tanzen ginge? Und was, wenn sie sich selbst einen Kranz aus Blumen und Kräuter flocht? Sicher, eigentlich trugen nur Mädchen und junge Frauen einen Blumenkranz, aber heute, ja heute, fühlte sie sich jung. Was die anderen wohl dazu sagen würden? Sie dachte an all die bösen Worte, all das Murren, mit denen sie den Dorfbewohner immer begegnet war. ‚Ob sie mich wohl in ihrer Mitte dulden?‘ dachte sie und ließ ihre Augen noch einmal über ihren Garten schweifen und machte sich dann fröhlich an ihr Tagwerk.

Als die ersten Takte der Musik erklangen zog die Alte ihr schönstes Kleid an und setzte sich den Blumenkranz auf den Kopf, den sie am Morgen gebunden hatte. Mit klopfenden Herzen machte sie sich auf den Weg zur Wiese. Unterwegs begegneten ihr die Dorfbewohner und so manch einer warf ihr einen verstohlenen Blick zu, ohne sie jedoch anzusprechen. Sie konnte sich denken, was die Leute dachten: „Was will die mürrische Alte hier? Will sie uns wieder den Spaß verderben?“

Als sie schließlich an der Festwiese ankam, verstummten die Gespräche. Alle sahen sie an und die Alte merkte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete. Sie räusperte sich, ließ ihre Augen über die Menge schweifen und sagte dann mit fester Stimme: Ich weiß, in den letzten Jahren war ich sehr unfreundlich zu euch. Mit mir war nicht gut auszukommen, denn ich gönnte euch kein Glück und keine Freude, weil ich nichts davon empfand. Blind und taub war ich und hart im Herzen. Heute aber fühle ich mich jung, wie neu geboren. Lasst mich erzählen, was ich diese Nacht erlebt habe.“ Getreulich berichtete die Alte was sich vergangene Nacht zugetragen hatte und schloss mit den Worten: „Ich möchte mich bei euch entschuldigen, weil ich immer so griesgrämig war und euch keine Freude gönnte. Ich bitte euch von ganzem Herzen: Verzeiht mir.“

Für einen Moment herrschte Stille, doch dann erhob sich der Dorfälteste, trat zu ihr und führte sie zu seinem Tisch. Später, als das Feuer brannte, tanzte sie ausgelassen mit den anderen und war so glücklich wie schon lange nicht mehr in ihrem Leben.

Ob die Dorfbewohner ihr die Geschichte mit der Mondgöttin geglaubt haben, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass die Alte von diesem Tage an nur noch freundlich zu jedermann und glücklich in ihrem Herzen war.

© Märchenerzählerin Heike Appold, Mainstockheim, Juni 2023

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