Darf man (Volks-)Märchen verändern – und wenn ja, gibt es eine Grenze?

Jeder Märchenerzähler der frei erzählt und nicht rezitiert, verändert die Vorlage ein wenig. Er verwendet eine andere Sprache, schmückt das ein oder andere aus, erwähnt anderes womöglich nur so am Rande. Das gehört zum freien Erzählen dazu, finde ich. Meine eigene Sprache finden, die Geschichte so nacherzählen, wie es für mich stimmig ist. Zeitgleich stellt sich die Frage: Wie weit darf diese Anpassung gehen? Darf ich nach eigenem Belieben verändern, was mir nicht gefällt? Oder gehört einfach alles zur Geschichte, so wie es überliefert ist? Auch wenn mir manches nicht schmeckt? Wenn es mir zu brutal erscheint oder nach erhobenem Zeigefinger klingt, den ich nicht unterstütze? Aber wenn ich allzu viel verändere, ist dann die Geschichte noch immer das Ursprungsmärchen oder habe ich ein Kunstmärchen geschaffen?

Mündliche Tradition

Lange bevor Märchen aufgeschrieben wurden hat man sie erzählt. Man gab sie mündlich weiter und wir alle wissen, was passiert, wenn ich eine Geschichte erzähle, jener der sie erlauscht weitergibt und wir das dreimal hintereinander wiederholen: Jeder merkt sich das, was für ihn wichtig ist und die Geschichte verändert sich mit jeder Weitergabe. Gibt es also überhaupt das Märchen xy oder gibt es nur das Märchen xy überliefert von…?

Wenn jemand, so wie ich, eine große Märchenbibliothek besitzt und ein Märchen in mehreren Büchern auftaucht, so kann er unschwer feststellen, dass die Versionen nicht identisch sind. Noch spannender wird es, wenn man das ein oder andere Märchen in der Sprache besitzt, die in jenem Land gesprochen wird, aus dem es stammt. In diesem Fall hat man oft zusätzlich zu den unterschiedlichen Überlieferungen auch noch diverse Übersetzungsunterschiede. Es macht Spaß die verschiedenen Versionen nebeneinander zu legen und sich die Unterschiede, aber auch die Gemeinsamkeiten anzusehen. Dabei kann man feststellen, dass, obwohl das ein oder andere verändert wurde, der Kern der Geschichte der gleiche bleibt.

Wenn ich als Erzählerin ein Märchen vorbereite das ich in unterschiedlichen Versionen besitze, so lege diese gern nebeneinander, sehe mir an, was wo überliefert wurde und übernehme bei den Unterschieden das, was für mich stimmig ist. Außerdem verwandle ich oft indirekte Rede in direkte, weil das für mich die Geschichte lebendiger macht. Lebendiges Erzählen gehört für mich unabdingbar zum freien Erzählen, das in der Tradition des mündlichen Erzählens steht.

Märchen wurden schon immer angepasst

Ob es uns bewusst ist oder nicht, Märchen wurden schon immer bearbeitet. Bestimmt könnte man viele, viele Beispiele dafür finden, ich selbst möchte mich hier aber mit zwei begnügen:

Die Brüder Grimm haben sehr bewusst die Geschichten, die man ihnen erzählte, so verändert, dass sie in die Zeit passten. So ist ihr Verdienst nicht nur die Erschaffung der wohlklingenden Märchensprache, sondern auch die inhaltliche Bearbeitung und Aufbereitung der Vorlagen nach ihrem eigenen Empfinden und ihren eigenen Motiven.

Vor einigen Wochen bin ich bei einer Märchenrecherche im Internet über den deutschen Geistlichen und Schriftsteller Johann Heinrich Lehnert gestolpert. Der Mann, der von 1782 bis 1848 lebte, brachte u.a. einige eigene Märchensammlungen heraus. In seinem Buch „Mährchenkranz für Kinder“ nahm er auch bekannte Märchen der Brüder Grimm und Charles Perrault auf, milderte dabei jedoch manche in seinen Augen wohl zu grausame Szene ab. Im Gegenzug dazu schmückte er andere Teile der Geschichten besonders aus.

Veränderte Märchen – Veränderte Botschaft

Märchen transportieren Weisheiten und Botschaften. Jede Veränderung – abgesehen von der rein sprachlichen Veränderung – ändert damit auch die Botschaft, die das Märchen in sich trägt. Ich erinnere mich noch gut an eine Märcheninterpretation während meiner Ausbildung, die sich einer freien Märchenerzählung anschloss. Den Titel des Märchens weiß ich nicht mehr, doch ich erinnere mich gut an den Märchenhelden, der ein junger Mann war. Während unserer Gespräche drehte sich viel darum, dass er, obwohl noch jung, all das bewerkstelligen konnte und so weise war. Wir stürzten uns regelrecht auf dieses „jung“. Als ich später das Märchen nachlas, musste ich feststellen, dass der Mann im Text mit keinem Wort als jung oder Jüngling oder ähnlichem bezeichnet wurde. Es hieß schlicht „der Mann“. Was war geschehen? In der Vorstellung der Erzählerin war der Mann schlicht jung und als freie Erzählerin, die nach Bildern erzählt, hat sie genau wiedergegeben, was ihrer Vorstellung entspricht – und uns damit, völlig unbewusst, eine andere Botschaft vermittelt als jene, die das Märchen im Originaltext besaß.
Nun war das eine unbeabsichtigte Veränderung, doch man kann Märchen auch bewusst verändern, und damit eine andere Botschaft in die Welt tragen. Es macht einen Unterschied ob ich eine Frau als Märchenheldin wähle, obwohl im Text selbst von einem Mann die Rede ist. Es ist wichtig, ob am Baum eine Pflaume oder ein Apfel hängt oder ob der Gegenspieler eine böse Hexe oder doch ein Zauberer ist. Jede Figur, jedes Ding das nicht nur Beiwerk ist, hat eine Botschaft für uns, ebenso wie die Attribute, die ich diesen zuschreibe. Verändere ich hier etwas, verändere ich deutlich die Weisheit des Märchens.

Darf ich ein Märchen also so tiefgreifend bearbeiten?

Die Frage lässt sich nicht einfach beantworten. Eine Patentlösung habe ich nicht und jede Erzählerin und jeder Erzähler muss selbst in sich hinein spüren, was wichtig und richtig für die Person selbst ist.

Manchmal ist die Überlieferung, die man in Händen hält einfach nicht stimmig. Manchmal spürt man: Da fehlt was! Manchmal will ein Detail einfach nicht ins Märchen passen. Soll man es dann einfach trotzdem so erzählen, wie es dasteht, obwohl man die Ungereimtheiten spürt? Für mich persönlich fühlt sich das nicht gut an. Soll man es einfach überhaupt nicht erzählen und dem Problem damit ausweichen? Das kann man natürlich, doch für mich ist das auch nicht stimmig, zumindest wenn mir der Rest gut gefällt oder gerade so gut zu einem Thema passt, das ich gerade erarbeite. Darf man es dann nach eigenem Gutdünken abändern? Aus meiner Sicht: Ja, aber… es ist dann schlicht nicht mehr das Ursprungsmärchen und das sollte auch erkennbar sein. Es ist dann eben nicht mehr das Märchen XY, sondern eine Geschichte nach den Motiven des Märchens XY. So fühlt es sich zumindest für mich stimmig an. Dazu gehört für mich auch, dass ich das klar kommuniziere, zumindest, wenn ich Name und Herkunft des Märchens bei einem Auftritt nenne. Ganz sicher aber muss ich darauf hinweisen, wenn ich das Erzählte interpredieren möchte.

Wie siehst Du das? Schreibe es mir gern in den Kommentaren.

Deine Märchenerzählerin

Heike Appold

2 Antworten auf „Darf man (Volks-)Märchen verändern – und wenn ja, gibt es eine Grenze?“

  1. Liebe Heike,
    du erwähnst ja schon die „Märchenfestschreiber“ Jacob und Wilhelm Grimm. Seit sie bis dato mündlich überlieferte Märchen und Sagen, für die sie im übrigen viel herumgereist sind, erstmals fixiert, also aufgeschrieben und in nur noch eine (ihre) Fassung gebracht haben, war es vorbei mit dem freien unbefangenen Umgang mit Geschichten. Jedenfalls hierzulande. Das finde ich ein wenig schade.

    Ich möchte, dass unsere alten Geschichtenschätze lebendig bleiben und weitergegeben werden. Dazu halte ich mich an verschiedene Fassungen und picke mir, wie du, meine Lieblingsstellen zusammen. Manchmal erzähle ich etwas dazu. Je nach Publikum und persönlicher Laune von mir. 😉 Oft spreche ich auch in wörtlicher Rede mit unterschiedlicher Stimme. Oder ich füge „Spätzle mit Soße“ als Gericht auf der Königstafel mit ein… Oder ich lasse etwas von meinem Publikum dazu fügen.

    So „aktiviert“ kann der Mensch des 21. Jahrhunderts sie besser verinnerlichen. Denn ich höre hier in D. regelmäßig Sätze, wie „Märchen sind nicht mehr zeitgemäß“, „zu grausam“, „nix für Erwachsene“ usw. Von Menschen anderer Kulturen höre ich das nicht.

    1. Liebe Manuela,

      hab‘ vielen Dank für Deine Zeilen. Das mit dem unbeschwerten, freien Umgang mit den Geschichten seit Grimm stimmt. Das merke ich an mir selbst immer wieder. Vielleicht lassen wir verkopften Deutschen uns da tatsächlich in ein zu enges Korsett pressen, das der Vielfalt und der Weite der Märchen nicht gerecht wird. Von dieser Warte habe ich es bisher noch nicht gesehen, aber es ist ein absolut spannender Blickwinkel.

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